Eine Kritik zu Christy.
Der Vorhang öffnet sich auf eine heutzutage ungewöhnlich schmale Kinoleinwand, als der Eröffnungsfilm der 14Plus-Sektion Christy von Regisseur Brendan Canty beginnt. Im 4:3 Format begleitet das Publikum in den nächsten 94 Minuten den gleichnamigen Protagonisten (Danny Power) durch seinen Alltag in Cork, Irland, und gibt so einen Einblick in die Lebensumstände der Menschen in diesem Gebiet des kleinen Inselstaats.
Nachdem Christy den Platz in seiner Pflegefamilie der letzten zehn Jahre verliert, kommt er übergangsweise bei seinem Bruder Shane (Diarmuid Noyes) unter, bis ihm ein neuer Wohnort zugewiesen wird. In dieser Umbruchphase begegnet Christy neuen Menschen und alten Bekannten, baut Beziehungen zu Familienmitgliedern auf, die er seit über einem Jahrzehnt nicht gesehen hat, muss für sich selbst herausfinden, was er mit seinem Leben auf die Dauer anfangen möchte.
Auf einfühlsame Weise wird das Leben des jungen Protagonisten eingefangen. Kalte Farbtöne untermalen die triste Realität, während warme Sonnenstrahlen die schönen, hoffnungsgebenden Momente begleiten. Obwohl sich der Film inmitten einer Gesellschaftsgruppe (gelegentlich auch Bubble bezeichnet) abspielt, mit der ich und viele weitere aus unserem Team im Alltag eher weniger Berührungspunkte haben und teilweise durch Vorurteile vorbelastet sind, ist von Anfang an eine Verbindung zu den Charakteren zu spüren. Das Publikum wird mit Christy zum Teil der Gemeinschaft, die Leinwand wird zu einem Zuhause, und sei es nur für die Laufzeit des Filmes. Christy sieht sich wie eine Liebesbekundung an Cork, und es scheint nur passend, dass die Hauptdarsteller:innen alle aus Cork und Umgebung stammen, um diese Geschichte so authentisch wie möglich darzustellen.

Allen voran Danny Power, der Christy in seinem Langfilmdebüt beeindruckend sensibel verkörpert. Zwischen Nahaufnahmen und Totalen wird ihm der nötige Raum gegeben, sich frei zu entfalten und Christy mit Leben zu füllen. Wut und Angst, Zweifel und Hoffnung, Freude und Dankbarkeit bleiben kurz unter der Oberfläche und sind nur an kleinen Veränderungen der Mimik auszumachen, die immer mehr hervorbrechen, je wohler sich Christy in seiner neuen Umgebung fühlt.
Was ein trauriger Film sein könnte, der schwer im Magen liegt, wird durch viele Elemente aufgelockert, allen voran dem unterschwelligen Humor. Hier kommen die Menschen ins Spiel, die ihren Lebensumständen trotzen und sich nicht unterkriegen lassen. Nicht umsonst ist Cork die Brutstätte des Jugendrapprojekts Rhyme Island, aus dem der 2024 viral gegangene Song „The Spark“ (von Kabin Crew und Lisdoonvarna Crew) hervorgegangen ist. Aus dieser energetischen Gruppe an Kindern und Jugendlichen wurden auch viele der Darsteller:innen von Christy rekrutiert – denn anscheinend sind viele Rapper:innen auch gute Schauspieler:innen, wie Brendan Canty im Publikumsgespräch feststellt.
Vier dieser Musiker:innen waren auch bei der Premiere am Freitag präsent und begeisterten das Publikum schon vor Vorstellungsbeginn mit einem Live-Medley ihrer Songs, darunter auch The Spark. Und es ist ganz klar: They got the energy to tell us all about it.
Christy bietet alles, was für mich einen herausragenden Film ausmacht: Nähe zu den Charakteren, Mitfühlen in jeder Minute und auf dem ganzen Gefühlsspektrum, gute Musik, Humor, ein schlüssiges Gesamtbild. Wärmstens zu empfehlen.
