Eine Kritik zu Paternal Leave von Alissa Jung aus dem 14plus Programm der Berlinale 2025
„And if he tries to punch you again, tell him you’ll punch back. That’s my philosophy.“
Die 15-jährige Leo repräsentiert frustrierte, rebellierende, alles-auf-die-eigene-Faust-machende Jugendliche, wie sie im Buche stehen. Blau gefärbte Strähnen, sarkastische Bemerkungen und eine tiefsitzende Verletztheit – mir persönlich ist sie sofort sympathisch. Direkt zu Beginn des Films sehen wir sie ihre sieben Sachen in einen Rucksack werfen und sich Hals über Kopf ein Busticket nach Italien kaufen. Ihre Mutter wird mit der Lüge hingehalten, dass Leo zu einer Geburtstagsparty ihrer Freundin eingeladen ist. Das ungute Gefühl in einen schmerzhaften Familienkonflikt hineingeworfen zu sein, macht sich von Anfang an bemerkbar. Der tatsächliche Grund für Leos Ausreißer und ihre – berechtigte – Wut wird erst am Ziel ihrer Reise allmählich klar. Sie sucht ihren biologischen Vater, der die Familie noch vor Leos Geburt im Stich gelassen hat.

An dieser Stelle ein kurzer Kommentar zum Setting des Films: Italien zeigt sich in Paternal Leave von einer anderen Seite, als das romantische Bild von sonnigen Stränden und bunten Hafenstädtchen, das wohl viele mit dem Land assoziieren. In dieser Hinsicht bringt der Film eine erfrischende Authentizität mit sich: Die Unterkunft von Leos Vater ist eher heruntergekommen, es regnet durch das kaputte Dach, der Ort wirkt fast ausgestorben. Hinzu kommt, dass man beim zuschauen die Kälte der winterlichen Küste durch die Leinwand spürt und praktisch mit den Schauspieler:innen mitfriert.
Passend zum Wetter ist auch das neuentstandene Vater-Tochter-Verhältnis ziemlich kühl. Paolo scheint mit der plötzlichen Anwesenheit seiner Tochter Leo restlos überfordert. Immer wieder fordert er sie auf zu gehen, macht dann doch einen Schritt auf sie zu nur um sie anschließend wieder von sich zu stoßen. Seine größte Angst: Seine neue Familie samt Tochter im Kleinkindalter könnte von Leo erfahren und endgültig das ohnehin brüchige Vertrauen in ihn verlieren. Leo dagegen gibt ihr Verlangen nach Antworten, nach Zuneigung oder wenigstens einer aufrichtigen Entschuldigung nicht auf und bleibt hartnäckig.
Die beiden scheinen immer einen Schritt vor und zwei Schritte zurück zu gehen, was beim Zuschauen unglaublich frustrierend und schmerzhaft realistisch zugleich ist. Der Film ruft einem in Bewusstsein, wie gewaltig und unumkehrbar die elterliche Verantwortung ist. Denn so sehr sich Paolo dieser zu entziehen versucht und seine Vergangenheit hinter sich lassen möchte, ist Leo doch der lebende Beweis für seiner Fehler, die er sich kaum eingestehen kann. Und trotz der starken Abneigung, die ich als Zuschauerin gegenüber dieser Figur empfinde, schwingt doch ein gewisses Mitleid mit dem jungen, chaotischen Vater mit, der seiner Rolle einfach nicht gewachsen scheint.
Versteht mich nicht falsch, Paternal Leave ist nicht gänzlich von Schmerz, Kälte und Familienkonflikt gefüllt. Zwischendurch schafft es der Film immer wieder Leichtigkeit in den Saal zu bringen. Ob durch Momente der Zärtlichkeit, humorvolle Szenen, charmante Nebencharaktere wie Leos Halbschwester, die kleine Principessa, oder den jungen Lieferanten, zu dem Leo eine enge Freundschaft aufbaut.
Mich hat der Kinobesuch sowohl zum Schmunzeln gebracht, als auch dazu, beim Abspann die ein oder andere Träne zu verdrücken. Ob das letztendlich vorrangig durch den sehr emotionalen Soundtrack (Hold Your Own von Kae Templest – große Empfehlung) oder tatsächlich durch die Tiefe des Films ausgelöst wurde, sei mal dahingestellt. Von meinen Sitznachbar:innen kamen folgende Reaktionen: ein ähnlich verweintes Gesicht wie meins auf der einen und die Aussage: „Also ich war ziemlich gelangweilt.“ von der anderen Seite. Geeignet ist der Film auf jeden Fall für die von 14plus angesprochene Altersklasse und alle, die sich gerne mit anstrengenden und komplizierten familiären Beziehungen beschäftigen.
