Eine Kritik zu Têtes brûlées
Wie kann ein junger Mensch mit dem Verlust eines Geliebten umgehen? Wie hält man den Schmerz aus, wo ist Raum für ihn? Und wo nimmt man die Kraft her, weiterzumachen? Mit diesen Fragen ist die zwölfjährige Eya konfrontiert, als plötzlich, aus dem Nichts, ihr großer Bruder Younes stirbt. Trotz der 13 Jahre Altersunterschied sind die beiden einander die engsten Bezugspersonen gewesen. Immer und überall füreinander da. Younes spielt die zentralste Rolle in Eyas Leben. Er war Freund, Wegbegleiter, Vorbild und Helfer in Not. Die Beziehung der beiden war geprägt von Zärtlichkeit, Verständnis, Fürsorge und Stolz. Stolz, der auf Gegenseitigkeit beruht. Man sah ihn in ihren Augen, wenn er sie mit dem Roller von der Schule abholte. Und man sah ihn in seinen Augen, wenn sie ihm in Anwesenheit seiner Freunde einen Vortrag hielt. Da war so viel Halt, der von dem Gegenüber verkörpert wurde, dass sich schon eine Übernachtung bei ihrer Freundin schmerzhaft für Eya anfühlte. Überfordernd, ja fast unmöglich. Nicht vorzustellen also, wie sich ein Leben ohne ihn anfühlen muss. Genau dieses Gefühl stellt der Film dar. Er versucht Eyas Emotionen einzufangen und auf die Leinwand zu bringen.
Sie wächst in einer tunesisch-muslimischen Familie in Brüssel auf. Wir beobachten sie aus dem Kinosessel, wie sie dem streng ritualisierten Trauerprozess ihrer Familie folgt und doch immer wieder zu den Freunden ihres verstorbenen Bruders flüchtet, die ebenfalls versuchen, einen Umgang mit ihrer Leere, mit ihrem Schmerz zu finden. Die Familie befindet sich im ersten Stock ihres Zuhauses wo Freund*innen und Familie ein und aus gehen und ihre Kondolenz anbieten. Die Freunde haben sich in Younes altem Zimmer in den zweiten Stock zurückgezogen. Und Eya springt. Springt zwischen beiden Etagen, beiden Welten, hin und her. Auf der Suche nach Halt. Eya macht der Verlust still, beobachtend und in sich gekehrt. Sie fühlt sich taub, hilflos, kann in Anwesenheit Anderer keine Musik hören und fürs Essen zieht sie sich nachts auf den Balkon zurück. Allein.
Doch das bedeutet nicht, dass ihre Mitmenschen eine Belastung darstellen. Ganz im Gegenteil. Besonders Younes Freunde sind die Stütze, die sie in dieser haltlosen Zeit braucht, um nicht nur am Leben zu bleiben, sondern sogar Momente der Freude wiederzuentdecken. Eine Gruppe junger Männer voll Liebe und Zuneigung füreinander. Auch sie schweigen die meiste Zeit. Doch aus dem Miteinander wird Kraft geschöpft. Ein wunderschönes Miteinander. Intim, voller Zärtlichkeit, körperlicher und emotionaler Nähe. Da ist Platz für Gefühle, für Trauer, für Überforderung und Angst. Hier wird Rücksicht genommen, Hilfe geleistet und zugehört. Für ihre Familie soll sie stark sein, hier darf sie Zerbrechlichkeit zeigen.
Eya ist ein junges Mädchen umgeben von Menschen, die ihr die Freiheit geben, zu sein, wer sie sein will. Sie ist intelligent, stark und voller Tatendrang. Sie weiß, was sie will, und hat den Mut dazu, es umzusetzen. Sie will sein wie ihr Bruder, hört seine Musik und trägt seine Kleidung. Das tut sie vor seinem Tod und das tut sie nach seinem Tod. Die Hiphop Musik, sowie der French-Rap ist ihr Erbe. Das, was sie von Younes noch hat, was ihr geblieben ist. Und was ihr Kraft gibt. Unter Menschen hört sie die Musik auf Kopfhörern, allein auf voller Lautstärke. Und sie tanzt dazu. Sie tanzt, um zu Überleben.

Der Film beginnt mit einer persönlichen Geschichte, ist privat, intim und doch in jeder Sekunde politisch. Es handelt sich zwar um eine fiktionale Geschichte, die eine solidarische Jugend porträtiert. Doch sie wird automatisch politisch, aufgrund der Art und Weise wie die tunesisch-muslimische Kultur gezeigt wird. Denn wir sehen hier eine positive Repräsentation vom Islam auf der Leinwand. Ein Bild frei von Stereotypen, welche sonst die Medien und die Welt an sich prägen. Traurig, dass dieses Leben gleich politisch ist, weil eine authentische, echte Repräsentation dessen so selten zu finden ist. Und doch ist dies der Fall. Dagegen kämpft die Regisseurin Maja-Ajmia Yde mit ihrer Arbeit an. Sie fordert die Zuschauer*innen. Fordert sie dazu auf, über Identität und Repräsentation zu reflektieren. Sie rückt eine starke junge Frau in den Mittelpunkt ihres Films, umgeben von verletzlichen, muslimischen Männern aus verschiedenen Generationen, die sie unterstützen und bestärken. Die ihr die Freiheit geben, sich zu entfalten und sensibel gegenübertreten. Und sie zeigt den Islam. Macht ihn sichtbar. Als etwas, was einem Resilienz und Trost spendet und Eya neben den Menschen, der Musik und dem Tanz eine Stütze ist.
Der Film ist eine zärtliche Reise durch Kummer. Schnell und gleichzeitig sehr langsam. An einem Ort, der so dicht, so komplex ist. Und an dem trotz der so wichtigen Tradition, individuelle Entscheidungen möglich sind. Dieser Film: Eine Repräsentation so wichtiger Themen, ohne diese zur einzigen Geschichte zu machen.
