Der legendäre Berlinale-Schal oder 20 Jahre Berlinale Family

im Interview mit einer treuen Berlinale Gängerin

2005 wurde ich das erste Mal von meiner Mutter mit auf die Berlinale genommen, und von fast allererster Stunde war Suse dabei, mit der ich seit dem jedes Jahr auf die Berlinale gehe und ganz viel gemeinsame Fetsival Geschichte teile. Ich habe mich schon immer gefragt, wie sieht die Berlinale für einen Menschen aus, der seit 20 Jahren das Festival besucht? Am Mittwochnachmittag treffe ich Suse im Cafe an der Urania, um uns über gemeinsame Berlinale Zeiten zu unterhalten.

freie Generation Report:innen: Vielleicht erst mal zum Einstieg: wie bist Du zur Berlinale gekommen und kannst du Dich an deinen aller ersten Film erinnern?

Suse: Nein, an meinen ersten Film erinnere ich mich leider nicht… Aber alles hat angefangen 2005, da habe ich einen Teil meiner jetzigen Berlinale-Familie, dich, deinen Bruder und deine Mutter, auf Reisen kennengelernt und ihr habt uns dann 2006 quasi mitgenommen, eingeladen, dazu verführt, oder angefixt – wie du es nennen möchtest. Und uns damit eine Welt eröffnet haben, die wir davor nicht kannten. Ich habe auch in Berlin studiert und kannte die Berlinale auch damals schon, aber die war – wie heute ja auch noch – leider immer zur Prüfungszeit, und damals musste man sich noch anstellen für die Tickets, und das ging zeitlich gar nicht. Deswegen habe ich es dann erst 2006 mit meinen Töchtern gestartet.

fGR: Und welcher Film ist der erste, der dir in Erinnerung geblieben ist?

Suse: Ich weiß wirklich nicht, wie früh das war – aber ich erinnere mich noch an einen Dokumentarfilm aus Mexiko, in dem es um Wanderarbeiter*innen ging. Die ganze Familie zog von Erntefeld zu Erntefeld und auch die jüngsten Kinder mussten schon bei der Ernte mithelfen. Die Ernte wurde gewogen und die Kamera hat die Kinder dabei begleitet, wie sie beim Wiegen und Verkaufen der Ernte betrogen wurden – das ist mir bis heute in Erinnerung geblieben und besonders euch als junge Kinder hat der Film sehr mitgenommen.

Suse erinnert sich hier an den mexikanischen Film „Los herederos/die Erben“, der 2008 im Generation K-Plus Programm lief.

Suse: Im ersten Jahr waren wir glaube ich auch nur für ein Wochenende auf dem Festival und haben maximal einen Film am Tag geschaut, also das war alles noch sehr in Maßen. Wir waren ja auch nur diese zwei Mütter mit ihren zwei Kindern. Von Jahr zu Jahr hat sich das dann aber gesteigert, wir haben andere ins Boot geholt und wir auch die Filmauswahl expandiert. Und mittlerweile ist die Filmauswahl und das Festivalerlebnis ja schon alles sehr routiniert und über die Jahre professionalisiert.

Suse und der legendäre Berlinale Schal

fGR: Vielleicht kannst du mal erzählen wie mittlerweile so eine Berlinale Routine bei dir aussieht?

Suse: Seit über 12 Jahren haben wir eine Gruppe, die von Jahr zu Jahr auch wächst. Wenn das Berlinale Programm veröffentlicht wird, erstelle ich eine Tabelle mit allen Filmen und Vorstellungen – Ort, Uhrzeit, Länge, damit man das koordinieren kann – und schicke sie an alle. Mittlerweile bin ich darin echt routiniert, aber es kostet mich trotzdem immer noch um die drei Stunden, die Datei aus dem Vorjahr zu aktualisieren. Die Stammfamilie besteht mittlerweile aus ca. 12 Leuten, die alle eine Spalte haben, wo sie dann eintragen welche Filme sie schauen wollen. Ein paar habe ich tatsächlich auch in der Schlange kennengelernt – ist ja auch ein Phänomen, dass wir es über die Jahre hingekriegt haben bei fast jedem Film immer an der Absperrung zu stehen. Die Organisation, die wir früher alleine gemacht haben, können wir dadurch jetzt auf ein paar verschiedene Schultern verteilen.

Nachdem sich alle eingetragen haben, geht der Telefonstress los. Immer Montag ab 9.30h, bewaffnet mit mindestens zwei Telefonen, bei denen im Wechsel auf Wahlwiederholung gedrückt wird. Am Anfang habe ich das ganz alleine gemacht, und Du weißt nie wann du durchkommst – ein mal bin ich erst um 17 Uhr durchgekommen, da habe ich Schweiß und Tränen geschwitzt. Aber wenn da eine Stimme am anderen Ende erklingt, pure Erleichterung! Mittlerweile erkenne ich auch die Stimmen der Personen, und ich glaube sie auch meine. Aber die sind da zwei bis drei Menschen und hatten dieses Jahr am ersten Tag 90.000 versuchte Anrufe, um das Mal in Dimension zu setzten. Wenn ich durchgekommen bin geht das Filme durchgeben los. Früher habe ich alles chronologisch gemacht, bis ein Mal die Preisverleihung schon ausverkauft war. Ab dann war meine Strategie: Eröffnungsfilme, Preisverleihung und dann erst der Reihe nach. Alles sehr viel Stress, aber ich mache das auch gerne, ich weiß wie es funktioniert. Die Tickets holt dann Susanne, eine andere Person aus unserer kleinen Berlinale Familie ab, sortiert alles und gibt sie bei der Eröffnung aus. So klappt das alles mittlerweile sehr gut und wir haben in fast jedem Film mindestens 6 Leute, mit denen wir auf unseren Stammplätzen sitzen.

fGR: Und was hat es eigentlich mit dem legendären roten Berlinale-Schal auf sich?

Suse: Das ist lustig. Die Familie wuchs wie gesagt, und jahrelang rannten wir ja immer alle mit vielen Schals beladen in den Saal um die Plätze freizuhalten. Irgendwann – ich glaube in der Pandemie – dachte ich das kann so nicht weiter gehen, und habe angefangen den Schal zu stricken. So lang, dass er über 20 Plätze passt. Damit die Family zusammen sitzen kann.

fGr: Mittlerweile haben wir echt eine kleine Community hier, würdest du sagen das ist der Hauptgrund, wieso wir bei Generation geblieben sind? Oder wieso genau diese Sektion?

Suse: Also wie gesagt bin ich mit Generation gewachsen. Wettbewerb reizt mich so gut wie gar nicht, weil die Filme mit hoher Wahrscheinlichkeit ja eh ins Kino kommen. Hin und wieder nehme ich mit vor auch andere Filme zu sehen, letztes Jahr war ich z.B. beim Panorama Publikumspreis und ein Mal bei der großen Eröffnung, das war ganz nett. Aber ich war auch nie so motiviert, dass ich dafür Karten haben wollte. Ich glaube ich mag Generation, weil die Wahrscheinlichkeit – leider – so gering ist, dass die Filme es irgendwann ins Kino schaffen. Bei jedem Film, der in die Kinos kommt, freue ich mich unfassbar.

Ich mag an Generation, dass ab und zu mal sehr junge Filmschaffende dabei sind, gerade bei den Kurzfilmen. Ich mag die Q&As, die es nach den Filmen gibt und dass so viele Kinder fragen stellen. Ich mag an Generation so gerne, dass ich in Länder geführt werde, die ich wahrscheinlich in meinem Leben nie bereisen werde. Ich kann mich an einen Film aus der Mongolei erinnern, wo es um Bergbau ging und die Menschen in einer Jurte gelebt haben. Da meinte mein Kind, Charlotte, es könnte sich auch gut vorstellen, in einer Jurte zu leben. Ich meinte dann nur „die Jurte ist wahrscheinlich so groß wie dein Zimmer und dein Spielzeug, und die Leben da mit der ganzen Familie.“ Und Charlotte meinte nur: „Mama, guck doch mal hin. Das braucht man alles gar nicht.“ So ein Feedback hat mich also immer echt umgehauen.

Erste in der Schlange!

Was ich außerdem mag, ist der Kontakt zum Team. Es sind ja seit Jahren, zumindest im HKW, die gleichen Mitarbeitenden, mittlerweile erkennen wir uns gegenseitig wieder und unterhalten uns immer sehr nett. Ich erinnere mich an die Sommer Berlinale in den Freiluftkinos, als Sebastian (der Sektionsleiter) vor mir in der Schlange stand und mich trotz Maske erkannt hat und sich so gefreut hat, dass er eine Stammgästin sieht. Ich war ein bisschen beeindruckt, dass er mich erkannt hat, und finde es wirklich schön, dass man so gesehen wird, weil das Publikum ja auch viel ausmacht.

fGR: Das ist echt eine schöne Zusammenfassung von Generation. Hast du denn das Gefühl, dass sich die Sektion verändert oder entwickelt hat über die Jahre?

Suse: Ja, diese Berührung mit dem Leben von Kindern in anderen Ländern, das dokumentarische gezeigt wurde, das ist nach meinem Gefühl tatsächlich ein bisschen weniger geworden. Dieses Jahr hatte ich den Eindruck, dass bei den Dokumentarfilmen die Kinder teilweise nur Randfiguren waren, wie bei „Only on Earth“ beispielsweise, da war ich ein bisschen überrascht. Natürlich gibt es noch viele schöne fiktionale Filme, die das Leben der Kinder abbilden, aber die Filme, die Kinder dokuemntarisch in den Mittelpunkt setzten, sind finde ich etwas weniger geworden.

Ich kann mich erinnern, wie Marianne, als sie es noch gemacht hat, immer betont hat, wie stolz sie darauf sind dieses Jahr wahnsinnig viele weibliche Filmemacherinnen dabei zu haben, oder auch hinter der Kamera. Seit die Sektionsleitung von Melika und Sebastian übernommen wurde, wird das nicht mehr so betont. Aber dieses Jahr hatten wir trotzdem ganz viele starke Filmemacherinnen und Charaktere. Und wie ich gehört habe scheint Generation da auch leider ein bisschen ein Einzelfall zu sein.

Seit ein paar Jahr wurden auch die Filme reduziert, dieses Jahr hatten wir je 10 Langfilme und 10 Kurzfilme in K-Plus und 14-Plus, vor 10 Jahren hatte wir gefühlt noch doppelt so viele. Und es ist das zweite Jahr, wo sie auch die internationale Jury zusammengefasst haben. Da erkennt man schon auch Kürzungen bei der Sektion, die hoffentlich nicht noch mehr ausgeweitet werden. Was mir noch auffällt ist, dass als wir angefangen haben viel mehr Kinder im Publikum waren. Ich sitze manchmal in Filmen und denke: wo sind die Kinder, wo sind die Jugendlichen? Das finde ich auch wirklich traurig. Was war bei uns damals anders in der Elternschaft, dass wir unsere Kinder diese Welt nahegebracht haben? Ich habe schon oft überlegt, wie man die jungen Eltern wieder dazu kriegt, mit ihren Kindern zu kommen? Ich hoffe, dass sich das wieder mehr wandelt.

fGR: Und was wäre noch dein Wunsch für Generation?

Berlinale Family Beutel

Suse: Ich würde mir wünschen, dass K-Plus und 14-Plus nicht zusammengelegt werden, dass es weiterhin die Kinder- und Jugenjurys gibt, um einen jugendlichen Blick auf die Filme zu behalten. Und dass wieder mehr Kinder und Jugendliche die Sektion zu schätzen lernen. Ich fände es auch schön, wenn es ein Angebot für Menschen gibt, die sich Tickets nicht leisten können, damit auch sie in den Kontakt zu Generation kommen könnten.

Ich will bis an mein Lebensende zu Generation gehen und habe auch schon einen Deal mit Alex, der die Kinderjury betreut, dass wir das hier für immer machen, und irgendwann zusammen im Rollstuhl im HKW sitzen und Generationsfilme genießen. Das finde ich eine sehr schöne Vorstellung. Und ich möchte für immer das HKW und den Zoopalast behalten.

Für mich persönlich wünsche ich mir also, dass ich das noch viele, viele Jahre habe. Und die Berlinale Familie immer da ist, wie ein Vogelschwarm ist, der immer rumfliegt, mal seine Form verändert und größer oder kleiner wird, aber wir für immer unsere Berlinale Family and Friends bleiben. Ich freue mich auch auf die nächsten 50 Jahre!

Wir schwelgen noch eine Weile in gemeinsamen Erinnerung, reden über den ein oder den anderen Film und über gemeinsame Momente. Dass Generation so viele Menschen für so viele Jahre ans Festival bindet und nicht mehr loslässt, ist in meinen Augen etwas Wunderschönes. Wie Suse hoffe ich sehr, dass noch viele Menschen und vor allem Kinder diese Privileg erleben dürfen. Danke an Suse an das Interview, den Rückblick auf 20 Jahre Generation und all die gemeinsamen Berlinale Erinnerungen, die mich für immer prägen werden!

  • Clara

    Für Clara ist die Berlinale seit vielen Jahren wie eine Art 5. Jahreszeit, in der sich in eine eigene kleine Welt außerhalb des Alltags gestürzt werden kann und durch unterschiedlichste Filme im Generation-Programm Einblicke in Geschichten von jungen Protagonist:innen bekommen kann. Im mittlerweile siebten Jahr mit den fGR freut sich Clara auf viele unvergessliche Filme, anregende Diskussionen, spannende Interviews und vor allem auf die einzigartige Berlinale Stimmung!

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