Wilder Hase hinter Gitter

Es war einmal ein Junge und sein bester Freund war ein Hase. Die beiden waren unzertrennlich und trafen sich immer in ihrem geheimen Versteck. Als der Junge eines Tages zum Versteck kam, war der Hase jedoch verschwunden, er war einfach gegangen ohne sich zu Verabschieden. Über die Zeit fand der Junge neue Freunde und hatte den Hasen beinahe ganz vergessen. Doch dann kam der Hase zurück… 

…Und Markos sorgsam aufgebauter Damm begann zu bröckeln.  

Ein Sandsack auf den nächsten gestapelt. Marko (Lav Novosel) hat jetzt viele neue Freunde, ein bevorstehendes Armdrücken Turnier, wo er gute Chancen hat, und eine Beziehung mit Petra, von der seine Mutter begeistert ist. Gleichzeitig steigt und steigt der Fluss, der tosend durch das kroatische Dorf zieht, in dem Marko lebt: es droht eine Überschwemmung. Plötzlich kehrt Slaven (Andrija Žunac) ins Dorf zurück, um seinen Vater zu beerdigen. Nach und nach stellt sich heraus, dass es zwischen den beiden vielleicht doch mehr als eine einfache Freundschaft war.  

Zečji nasip, oder auch Sandbag Dam, erzählt eine Geschichte von Freiheit, von Liebe, von Familie und einem Umfeld, in dem nicht jeder gleichermaßen akzeptiert wird. Wie geht man damit um, wenn die aufgebauten Schutzmauern zerfallen und die rohen Emotionen übrigbleiben? 

Mit einem der längsten Applause, die ich diese Berlinale erlebt habe, endet der Film, doch man bleibt noch lange in die Geschichte von Marko und Slaven vertieft…

Das, was dem Film so echt und authentisch erscheinen lässt, sind vor allem die Zwischenmenschlichen Beziehungen. Diese werden durch herausragende Schauspielerische Leistung porträtiert. Hierbei fällt vor allem die Beziehung zwischen Marko und seinem jüngeren Bruder Fićo auf, die mit ganz viel Herz dargestellt wird. Insbesondere durch kleine alltägliche Interaktionen, wie das Gute-Nacht-Geschichten erzählen als Fićo nicht einschlafen kann oder das gemeinsame Spielen draußen, wirken sehr authentisch. Sie zeigen die Zärtlichkeit aber auch den Humor, den die beiden Charaktere verbindet. Der Moment, in dem Marko in den Armen seines kleinen Bruders anfängt zu weinen, hat mich tief berührt. Das bedingungslose Verständnis und die unzertrennliche Verbindung wird hier verkörpert.
Auch die Beziehung zwischen Marko und Slaven, die zu Beginn noch schwer greifbar ist, entwickelt sich im Laufe des Films immer mehr und wird mit jedem neuen Detail verständlicher. Besonders spürbar ist die Anziehung, die trotz mehrerer Jahre ohne Kontakt zwischen ihnen besteht, ebenso wie der Schmerz des Verlustes. Doch auch hier verbindet sie Humor, wie das Einsteigen ins imaginäre Auto, mit dem sie genau dahin fahren können wohin sie wollen. Trotzdem hätte ich mir vielleicht gewünscht die Verbindung zwischen den beiden noch mehrschichtiger dargestellt zu sehen. 

Durch Filmgestalterische Mittel wie den mystischen Soundtrack, der mit langen Streichklängen eine zunehmend melancholische und bedrückendes Atmosphäre erschafft, wird die Stimmung des Filmes eingefangen. Auch die allgemeinen blassen, erdigen Farben vermitteln ein rohes Gefühl. Die Kameraeinstellungen erzählen die Geschichte auf subtile Weise, indem sie Einschnitte des steigenden Flusses in die restliche Handlung kunstvoll einbetten. Zwar gab es an mehreren Stellen verwirrende Schnittfehler, die mich persönlich etwas aus dem Fluss der Erzählung gebracht haben, aber das war für den Gesamteindruck nicht weiter schlimm. 

Was mich von Zečji nasip am meisten überzeugt hat, sind die wirkungsvollen Motive, die sich durch den gesamten Film ziehen und das Publikum ganz raffiniert durch die Geschichte leiten. Das zentralste Element ist der Fluss, der das Setting bestimmt und die Spannung des Films stark beeinflusst. Das kroatische Dorf, in dem die Handlung spielt, wird jedes Jahr von Fluten und Überschwemmungen heimgesucht. Nahaufnahmen des Flusses, dessen Strömungen unaufhaltsam ansteigen, verdeutlichen die steigende Gefahr. Obwohl dieses Geschehen nie direkt thematisiert wird, zieht sich die Bedrohung im Hintergrund durch den Film, etwa durch Radiosendungen über den Wasserstand oder die aufgebauten Dämme aus Sandsäcken, die Marko auf seinem Weg passiert. So findet eine stille Bedrohung statt, die sich immer weiter ausbreitet und mit der Haupthandlung von Marko übereinstimmt, denn der Fluss findet immer einen Weg, genauso wie die unausgesprochenen Emotionen. 

Ein weiteres starkes Symbol ist die Darstellung von Händen beim Armdrücken oder in den Momenten zwischen den beiden Jungs, die durch ihre Berührungen Intimität, aber auch die nackte Verletzlichkeit ausdrücken.  

Zeichnung von Anna-Farida

Auch die Hasen tauchen immer wieder auf, als Erzählung, als Ficos geliebten Haustiere oder als wilder Hase am Flussufer. Hier kann man bestimmt viel hineininterpretieren, aber ich verstehe sie als Metapher für Freiheit, sowie Widerstand für Gleichberechtigung. Die Regisseurin Čejen Černić Čanak sagt beim Publikumsgespräch:  

“Wenn man einen wilden Hasen einsperrt, wird er versuchen zu entkommen. Er wird sich gegen das Gitter und die Mauern drücken, immer und immer wieder, bis er letztendlich seine Wirbelsäule bricht. Wenn man also einen wilden Hasen in einen Käfig sperrt, wird er gezwungen Selbstmord zu begehen. In vielen Weisen ist eine Freiheitsberaubung dasselbe für uns Menschen.” 

Und genau aus diesem Grund ist die Freiheit aller Sexualitäten und ein akzeptierendes respektvolles Umfeld von so unschätzbarem Wert. Das Umfeld spielt auch hier eine entscheidende Rolle – sowohl für Marko als auch für den gesamten Film. Die verschiedenen Perspektiven und Handlungen innerhalb des Films zeigen deutlich, wie schwer es sein kann sich einer Masse entgegenzustellen und für sich selbst einzustehen. Die Eltern, die ihre Kinder nicht so akzeptieren können, wie sie sind, weil sie sich dem sozialen Druck des Dorfes beugen wollen, bis hin zu dem Punkt, ihr eigenes Kind aus dem Haus zu werfen. Die Freunde, die einen nur so lange cool finden, bis sie erfahren, dass man nicht der Norm entspricht. Und schließlich die, die eigentlich nur das Beste für ihre Kinder wollen, aber durch ihre eigenen Ängste und gesellschaftlichen Erwartungen daran gehindert werden, wirklich unterstützend zu handeln. 
All das zeigt, wie stark das Umfeld das Leben und die Entscheidungen jedes Einzelnen beeinflussen kann. Daher ist “Zečji nasip” so relevant, denn auch in Kroatien gibt es immer noch weit verbreiteten Widerstand gegen gleichgeschlechtliche Partnerschaften, besonders in ländlichen Gegenden. Diskriminierung, Vorurteile und eine ständige Bedrohung durch Homophobie sind leider nach wie vor Alltag für viele Menschen der LGBTQIA+ Community in Kroatien.

Wegen seiner gesellschaftskritischen Relevanz, aber auch einfach wegen der bewegenden Geschichte, ist Zečji nasip definitiv sehenswert. Der Film bietet einen ehrlichen und eindrucksvollen Blick auf die Herausforderungen, mit denen Menschen in einer noch immer von Vorurteilen geprägten Gesellschaft konfrontiert sind.  

  • Anna-Farida

    Anna-Farida (19) interessiert sich für alle Formen der Kunst, besonders wie man eine bestimmte Stimmung mit Film ausdrücken kann. Schon seit sie klein ist besucht sie jedes Jahr die Berlinale, um Filme aus aller Welt zu sehen und die besonderen Eindrücke des Publikums einzufangen. Vor allem das Auseinandersetzten mit Filmen, sei es durchs Schreiben, Zeichnen oder Sprechen empfindet sie als wichtig.

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