Unterdrückt, empowert, übersehen: Junge Perspektiven im Berlinale Wettbewerb

Das erste Wettbewerbsprogramm unter der Leitung von Tricia Tuttle präsentierte auf der 75. Berlinale gleich mehrere Filme, die junge Menschen in den Fokus des Geschehens rücken. Auf unterschiedlichste Weise wird die Welt der Kinder und Jugendlichen porträtiert. Worin unterschieden sich die Filme? Wie wird die junge Perspektive auf die Leinwand gebracht? Und welche der Filme sind für ein junges Publikum geeignet?

Liv Thastum gibt ein Resümee über drei der diesjährigen Wettbewerbsfilme: Den argentinischen Beitrag El mensaje von Iván Fund (Silberner Bär), den norwegischen Gewinner des Goldenen Bären Drømmer von Dag Johan Haugerud, sowie den ukrainischen Dokumentarfilm Strichka chasu von Kateryna Gornostai.

Unterdrück: El mensaje

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© Iván Fund, Laura Mara Tablón, Gustavo Schiaffino / Rita Cine, Insomnia Films

Der argentinische Film El mensaje (Die Nachricht) ist ein schwarz-weiß gehaltener bedrückender Roadmovie. Porträtiert wird ein Mädchen, das mit zwei Erwachsenen Myriam und Roger in einem Wohnwagen lebt. Ihre Gabe mit Tieren zu sprechen wird von den Erwachsenen in ein Geschäftsmodell verwandelt, in dem Anika, die um die 9 Jahre ist, die Hauptlast trägt. Die Familie reist durch das ganze Land, Anika spricht mit lebenden und verstorbenen Haustieren. Die Besitzer*innen überreichen das Geld an die Erwachsenen.

Interessant an diesem Film ist weniger die Frage nach der Wahrhaftigkeit von Anikas Gabe, sondern die Darstellung der Machtlosigkeit des Kindes in dem Beziehungsgefälle. Die dramaturgische Bewegung ist klug gewählt. Der Film zeigt direkt zu Beginn die Vernachlässigung des Kindes. Mit nassen Haaren und ohne Kleider sitzt Anika am hinteren Ende des parkenden Wohnwagens, klopft vergeblich an die Tür und ruft nach ihren Kleidern. Die nächste Szene zeigt Anika im Fotoshooting mit Myriam. Gezwungen lächelt Anika in die Kamera, Myriam lässt nicht locker, mit ihrem Handy schießt sie immer mehr Businessfotos, die Szene zieht sich, zum Leid des Kindes. Im Laufe des Films tauchen nun auch liebevolle Szenen zwischen den Erwachsenen und Anika auf, diese bleiben jedoch überschattet von der zu Anfang gezeigten finanziellen Ausnutzung des Kindes. Mit dem Schwarz-Weiß der Bilder legt sich ein bedrückender Schleier über das Geschehen, der sich auch am Ende nicht löst. Denn leider geht der Film mit dem Konflikt nicht weiter um, der so gekonnt geöffnet wurde. Wir sehen die drei von einem Ort zum anderen reisen, ohne dass sich etwas verändert. Niemand spricht über die Ausnutzung des Kindes und das Mädchen wehrt sich in keinem Moment. Sprechen tut sie im Grunde sowieso nur mit den Tieren. Ihre Innenwelt bleibt komplett verborgen. Der Film läuft als unbewegliche Linie vor sich hin. Sicher, die Entscheidung ist bewusst getroffen, um die Machtlosigkeit des Kindes zu verdeutlichen. Es gibt keinen Ausweg für Anika. Nichts kann und wird sich für sie ändern. Aber der Film verlässt sich an dieser Stelle zu sehr auf seine ästhetischen und poetischen Mittel. Denn wenn die Handlung aussetzt, muss auf anderer Ebene weitererzählt werden. Der von Trompeten getragene Soundtrack klingt aufgesetzt, in Kombination mit dem schwarz-weiß wirkt er eher melodramatisch als kunstvoll. Die ästhetische Tradition, in der El mensaje stehen möchte, wird erkennbar, nur die Tragik ist nicht greifbar, denn es bleibt unklar, wie sich das Mädchen in dieser Welt fühlt. So bleibt die Dramatik eine von außen, von einem erwachsenen Blick auferlegte, die sich nicht übertragen kann.

Ein Film, der unter seinen Möglichkeiten bleibt und durch die fehlende Verhandlung der Problematik eher aus ästhetischen Gründen sehenswert ist und vermutlich auch dafür den Silbernen Bären der Jury gewinnt. Aber für ein junges Publikum sind andere Filme des Programms wesentlich sehenswerter.

Empowert: Drømmer

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© Motlys

Der norwegische Film Drømmer (Träume) könnte unterschiedlicher nicht sein. In diesem mitreißenden Drama begegnen wir der 17-jährigen Johanne, die sich Hals über Kopf in ihre Lehrerin verliebt. Der Film legt die Innenwelt der Protagonisten schonungslos offen, denn Johanne schreibt ein Buch. Ein Buch, in dem sie auf detaillierte und intimste Weise beschreibt, wie sich dieses Verliebtsein anfühlt. Sie schreibt über das Glück und die Scham und darüber, dass sie sich niemandem anvertrauen kann und über die daraus entstehende Einsamkeit. Der Film legt liebevoll offen, wie sehr Schreiben ein Medium der Reflexion ist und wie hilfreich Literatur bei der Verarbeitung von Erlebten sein kann. Bei der Vergabe des Goldenen Bären für den besten Film im Wettbewerb der 75. Berlinale unterstreicht Regisseur Dag Johan Haugerud die Kraft des Schreibens: „Drømmer ist ein Film über das Schreiben und das Lesen. Schreibt mehr lest mehr, denn das erweitert den Geist und das tut uns allen gut!“

Genau das spiegelt die Figur Johannes wider. Der Film nimmt seine kluge Protagonistin und ihre Gefühlswelt ernst und empowert dadurch Jugendliche und ihr Reflexionsvermögen. Genau das macht Drømmer zu einem Film, der auch mitten hinein in die Zielgruppe eines jungen Publikums trifft. In Form eines intimen Voice-overs wird den Gedanken Johannes so viel Raum gegeben, wie selten im Kino. Wenn es schon ums Schreiben geht, muss an dieser Stelle das gelungene Drehbuch des Regisseurs erwähnt werden. Denn dieses trägt maßgeblich zur Qualität des Filmes bei: Sowohl auf sprachlicher Ebene durch poetische und detaillierte Beschreibungen, aber auch dramaturgische Bewegungen wie das Erzählen in Rückblenden, ist durchweg überzeugend. Toll ist auch, dass die Figuren mehrschichtig und reflexionsfähig gezeichnet werden. So überdenkt Johannes Mutter, die nach dem Lesen des Manuskripts zunächst völlig überreagiert und die Lehrerin anzeigen möchte, ihre erste Reaktion, und unterstützt wenig später die Veröffentlichung des Buches.

Auch die subtile Verhandlung des Queer-Seins gelingt Dag Johan Haugerud. Johanna selbst denkt gar nicht darüber nach, dass sie sich in einer Frau verliebt hat. Das Gefühl steht im Vordergrund. Deshalb reagiert sie überrascht, als ihre Mutter das Buch als „queeres Erwachen“ beschreibt. „Bin ich queer, nur weil ich mich in Johanna verliebt habe?“, fragt Johanna überrascht.

Drømmer überzeugt durch eine poetische, intime Text- und Bildsprache, starke schauspielerische Leistungen und eine Handlung, die Interpretationsspielraum offen lässt.
Der deutsche Kinostart von Drømmer ist für den 8. Mai angesetzt und verspricht für alle, die schon einmal verliebt waren oder davon träumen, ein bewegendes und unterhaltsames Kinoerlebnis.

Übersehen: Strichka chasu

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© Oleksandr Roshchyn

Zum ersten Mal seit 1997 präsentiert das Wettbewerbsprogramm der Berlinale einen Film aus der Ukraine. Ein Fakt, der verwundert, denn die ukrainische Filmszene setzt seit Jahrzehnten qualitativ hochwertige und erfolgreiche Filme in die Welt. Allein in der Sektion Generation konnte das junge Publikum seit Shkola nomer 3 von Yelizaveta Smith im Jahr 2017 regelmäßig Filme aus der Ukraine sehen. Genau wie der diesjährige Wettbewerbsfilm Strichka chasu (Zeitstempel) porträtierten diese Filme, meist in dokumentarischer Form, Kinder und Jugendliche auf der Suche nach einem Platz in einer vom Krieg gezeichneten Welt. 2021 gewann Regisseurin Kateryna Gornostai mit ihrem liebevollen Spielfilm Stop-Zemlia den gläsernen Bären der Sektion 14+. Nun kehrt sie mit Strichka chasu auf die Berlinale zurück, und mit ihr darf nun endlich ein ukrainischer Dokumentarfilm im Wettbewerb gezeigt werden und die damit einhergehende Aufmerksamkeit bekommen.

„Lasst uns unser Klassenzimmer anschauen.“ Kinder laufen durch ein völlig zerstörtes Schulgebäude. Der Boden der Turnhalle ist von Scherben bedeckt. Es knirscht bei jedem Schritt. Von den Wänden des Klassenzimmers sind nur noch einzelne Säulen übrig geblieben. Die Stühle und Tische liegen verstreut auf den angrenzenden Wiesen.

Ein Drittel der ukrainischen Schulen kann durch die Folgen des Krieges den Betrieb nur teilweise oder gar nicht aufrechterhalten. Viele Kinder können nur online-unterrichtet werden. Eltern und Kindern warten seit Jahren auf den Wiederaufbau der Schulen. Der Film Strichka chasu dokumentiert die Situation an Schulen über das ganze Land verteilt. Trotz zerstörten Klassenzimmer, Bombenalarm und Unterricht im Schutzbunker wird versucht den Kindern Normalität und Austausch zu ermöglichen. Ganz ohne Interviews und Voice-over porträtiert der Film zart und rücksichtsvoll den Alltag der Kinder und Jugendlichen. Wie schon in Stop-Zemlia schafft es Regisseurin Kateryna Gornostai, eine sanfte, respektvolle Filmsprache zu finden, die den Krieg verhandelt ohne seine Grausamkeit zu reproduzieren oder für dramatische Zwecke auszunutzen. Diese Herangehensweise macht den Film aus und unterscheidet ihn von der sensationsorientierten Berichterstattung, die uns im Alltag umgibt.

Zudem ist Strichka chasu ein ästhetisch und dramaturgisch sehr beeindruckend gearbeiteter Dokumentarfilm. Durch eine kunstvolle Kameraführung und einen herausragenden Schnitt gelingt dem Film das große Unterfangen eine Vielzahl von Orten und Menschen zu porträtieren und gleichzeitig ein Gefühl der Kontinuität herzustellen. Auf der Pressekonferenz erzählt Nikon Romanchenko (Schnitt und Montage), dass manche zu Beginn gedrehte Szenen bewusst ans Ende gesetzt wurden, um einen dramaturgischen Verlauf zu schaffen, der die Zuspitzung des Kriegsgeschehens nachzeichnet. Dazu kommt eine weitere kluge dramaturgische Entscheidung: Der Film zeigt zunächst Grundschulkinder, um sich dann, nach und nach, auch Abiturklassen und jungen Menschen, die sich in Ausbildung befinden, zu widmen. Der Verlauf der Zeit, das Älterwerden der Kinder, wird mitreflektiert.

Die vielleicht schwierigste Aufgabe bei der Arbeit an einem Dokumentarfilm, nämlich die Auswahl und Anordnung des gefilmten Materials, meistert das Team von Strichka chasu bravurös. Selbst der Soundtrack fügt sich stimmig. Die Bilder werden untermalt von einem ukrainischen Frauenchor. Die meist in Staccato gesungene, teils polyrhythmische Stimmführung verleiht dem Film Dynamik. Die Musik hilft dabei, sich in das Geschehen hineinzuversetzen. Wenn in Momenten die O-Töne ausgeblendet werden und die Vocalmusik erklingt, wird das Unausgesprochene spürbar: Ein schweigendes Kind im Klassenzimmer dem Unterricht nicht folgen kann – die Gedanken wandern woanders. Beim Vater? Beim Bruder? Vielleicht auch nur beim Kuscheltier.

Das Einzige, was diesem Film fehlt, ist eine Öffnung der Perspektive. Nicht für alle Ukrainer ist die Positionierung im Krieg, die Aufopferung für das Militär eine leichte Entscheidung. Viele haben Verwandte in Russland, nicht alle empfinden einen so starken Nationalismus. Zur Erweiterung der Perspektive sei an dieser Stelle wärmstens der ukrainische Beitrag When Lightning Flashes Over the Sea von Eva Neymann, im diesjährigen Forum-Programm der Berlinale empfohlen.

Nichtsdestotrotz war Strichka chasu der beeindruckendste, mutigste Wettbewerbsbeitrag der diesjährigen Berlinale und wurde von vielen als Favorit für den Goldenen Bären gehandelt. Es bleibt ein Rätsel, warum der Wettbewerbs-Film mit der größten politischen Relevanz bei der Preisverleihung leer ausging. Beachtet man dazu die Dominanz von westlichen High-Budget-Filmen im Wettbewerbsprogramm, bleibt nur zu hoffen, dass die Berlinale im Eifer nach finanziellem Profit und Erfolg ihren Ruf als Festival mit politischer Relevanz nicht aus den Augen verliert.

Denn Filme wie Strichka chasu können uns (ob jung oder alt) helfen das zu verstehen, woran die Medien und Hollywoodproduktionen oft scheitern: Inmitten eines Kriegsgeschehens tragen Menschen Sorgen und Träume in sich, die sich gar nicht so sehr unterscheiden von unseren eigenen. Im Krieg geht es nicht um abstrakte Zahlen und explodierende Gebäude. Es geht um Menschen, wie du und ich.

  • Liv Thastum

    Liv Thastum, *1997 in Berlin, beendet zurzeit den Master Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus. Sie war unter anderem für die Medien Litradio, Pfeil&Bogen und die dänische Zeitung Arbejderen tätig. Seit 2013 schreibt und leitet sie die Freien Generation Reporter:innen. Ihre deutschen und dänischen Texte wurden in Anthologien und Zeitschriften veröffentlicht und mehrfach ausgezeichnet. 2024 wurde sie für den 32. Open Mike nominiert und war Preisträgerin des WORTMELDUNGEN Förderpreises.

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