Mit Wenn du Angst hast nimmst du dein Herz in den Mund und lächelst in der Sektion Forum, und dem Film Sorda (engl: Deaf) in der Sektion Panorama laufen zwei Filme im diesjährigen Berlinale-Programm, die sich jeweils mit einer gehörlosen Frau und Mutter, und ihrem Umfeld auseinandersetzen. Beide Filme erhielten den CICAE Art Cinema Award, vergeben von der International Confederation of Arthouse Cinemas, die damit erreichen möchten, herausragende Filme in die Arthouse Kinos zu bringen. Darüber hinaus wurde Sorda mit dem Panorama-Publikumspreis ausgezeichnet, der in diesem Jahr durch rund 28.000 Stimmen ermittelt wurde. Wenn du Angst hast nimmst du dein Herz in den Mund und lächelst erhielt zudem den Jury Award des Teddy Awards, dem queeren Filmpreis der Berlinale. Die Repräsentation dieser Thematik durch die beiden Filme zeigt die Wertschätzung des Themas und verdeutlicht, dass die Perspektiven gehörloser Menschen weiterhin unterrepräsentiert sind – zugleich aber ein großes Interesse besteht und viele mehr davon sehen möchten.
Für die österreichische Regisseurin Marie Luise Lehner ist dies ihr Debüt-Spielfilm, während die Spanierin Eva Libertad mit Sorda ihren zweiten Spielfilm vollendet. In diesem Artikel gebe ich Einblicke in beide Filme.
Selbstbestimmung: Wenn du Angst hast nimmst du dein Herz in den Mund und lächelst

Die österreichische Produktion Wenn du Angst hast nimmst du dein Herz in den Mund und lächelst befasst sich insbesondere mit der Mutter-Tochter Beziehung aus der Perspektive der 12-jährigen Anna. Hier geht es um den Beginn ihrer Pubertät. Sie kommt gerade auf eine neue Schule und möchte einfach nur dazu gehören. „Warum müssen wir immer in Allem anders sein?“ schmettert sie ihrer Mutter Isolde in einem zwischenzeitlichen Ausraster entgegen. Nicht nur die Gehörlosigkeit der Mutter grenzt sie von den anderen ab, auch die finanzielle Situation zuhause. Zu Beginn des Films erleben wir, wie die beiden im gleichen Bett schlafen. Auch den Skitrip kann sich Isolde nicht leisten und erzählt der Lehrerin stattdessen, Anna sei krank. Anna wird dadurch Komplizin in einer Sache, mit der sie sich nicht wohl fühlt. Regisseurin Marie Luise Lehner wollte hiermit auf die missliche Lage vieler österreichischer Familien hindeuten, die sich die jeweils Hunderte Euro für die jährlich stattfindenden Skitrips, womöglich auch noch mehrerer Kinder, nicht leisten könnten und lieber auf Ausreden wie Krankheiten zurückfielen.
Wenn du Angst hast nimmst du dein Herz in den Mund und lächelst repräsentiert also zum Einen eine „normale“ Geschichte des Heranwachsens, mit Thematiken, in denen sich jede:r wiederfinden kann, wie der Frage der Zugehörigkeit. Zum Anderen geht es um gesellschaftliche Problematiken wie Klassenunterschiede. Und zu einem weiteren, sehr wichtigen Teil begleiten wir die Perspektive der Mutter. Ihre Rolle ist keinesfalls reduziert auf die Gehörlosigkeit, sondern ist facettenreich dargestellt. Ihre Bedürfnisse werden hervorgehoben und als wertvoll behandelt. So häufig vermittelt unser westliches Weltbild, dass Mütter für ihre Kinder alles zurückstecken müssten. Hier jedoch wird Wert darauf gelegt, dass sie ihre Bedürfnisse ausleben kann. Dass ein eigenes Bett, das Ausleben von Intimität und Sexualität wichtig für ihre Selbstbestimmtheit ist.
Darüber hinaus werden weitere Themen transportiert und eine authentische Normalität erreicht: Abtreibung und das Recht der Frau auf Selbstbestimmung, Trans-Personen als Eltern, sich als Mädchen in ein anderes Mädchen zu verlieben.

Zudem wird Anna eine kritische Einordnung zugestanden: sie ist nicht verliebt in Paul, sie möchte Paul sein. Was genau sie damit meint, wird offen gelassen. Die Erkenntnis, dass Paul finanziell viel besser gestellt ist als sie? Dass ihm als weißem Jungen gesellschaftlich alles verziehen wird und er viel freier ist? Durch diese Aussage wird ihre jugendliche, weibliche Rolle nicht aufs Verliebtsein reduziert, wie so häufig in Coming of Age-Filmen, sondern ihr eine beeindruckende Reflektionsgabe verliehen. Eine erfrischende vielschichtige Repräsentation einer jungen Frau, wie es in Filmen immer noch viel zu selten geschieht.
Neben der Handlung und Darstellung der zwei Protagonistinnen lebt dieser queer-feministische Film besonders von seinem Sound. Zum einen scheinen die Hintergrundgeräusche in den Szenen ohne Hintergrundmusik viel präsenter als in anderen Filmen. Das Tschilpen der Vögel, die Geräusche der Kinder aus dem Hof: All die Geräusche, die in anderen Filmen untergehen würden, werden hier besonders hervorgehoben und nehmen das Publikum hierdurch mit auf eine veränderte Sinnesreise, die dem Thema der Gehörlosigkeit gut gerecht wird. Darüber hinaus, und vermeintlich fast gegenteilig, ist der Film geprägt von textlastiger, poppiger und eingängiger Musik von zumeist queeren Interpreten, die die Handlung des Films unterstreicht und spielerisch darauf reagiert. Im Publikumsgespräch verweist Marie Luise Lehner darauf, wie toll sie es findet, dass man die Inhalte der Lieder durch die Untertitel noch weniger ignorieren kann und auf noch weiteren Ebenen mit den feministischen Inhalten des Films konfrontiert wird. Alles in allem ist die Kombination aus eindrücklichen Hintergrundgeräuschen und mitreißender inhaltsstarker Musik sehr gelungen und hallt noch lange nach.
An einer Stelle gegen Ende des Films bekommt man den Eindruck, die Regisseurin wollte ein bisschen zu viel Gesellschaftskritik unterbringen. Ein neues Thema wird angerissen, ohne ihm genügend Raum zur Entfaltung zu geben. Hier wird deutlich, dass Marie Luise Lehner dem Privileg, diesen Film machen zu können, vielleicht übermäßig gerecht werden wollte, indem sie möglichst alle gesellschaftlich relevanten Themen in ihrem Debütfilm unterbringt. Aufgrund des ansonsten sehr stimmigen Gesamtbildes ist dieser Kritikpunkt jedoch vernachlässigbar klein und ihr Anspruch gut nachvollziehbar.
Für mich fällt der Debütfilm von Marie Luise Lehner in eine Kategorie von Filmen, die im Nachhinein, beim Reflektieren und Nachwirken, noch besser werden. Während des Schauens war ich ein wenig über die schauspielerische Leistung einiger jugendlicher Nebencharaktere gestolpert. Im Nachhinein werden solche Details dann nebensächlich und die starke Botschaft und das liebevolle Porträt der beiden Protagonistinnen überwiegt. Ein eindrucksvoller Film über Zugehörigkeit und Ausgrenzung durch gesellschaftliche Strukturen, der wertvolle Einblicke in das Leben von Gehörlosen bietet und einen wichtigen Beitrag zum queeren und feministischen Kino leistet – zugleich auch gut für ein jüngeres Publikum geeignet.
Lautlose Trennung: Sorda

In Sorda begleiten wir ein junges Paar: Ángela, gehörlos und schwanger, und Héctor, hörend und in voller Vorfreude auf das Kind. Bevor das Kind geboren ist, kann nicht festgestellt werden, ob das Baby gehörlos oder hörend auf die Welt kommen wird. Auch danach muss noch bis zu drei Monate gewartet werden, bis das einwandfrei erkennbar ist. Was zu Beginn als sehr liebevolle Beziehung, der nichts schaden kann, dargestellt wird, spitzt sich langsam zu, als erste Gefühle von Unverständnis gegenüber der Tochter und dem Partner/der Partnerin entstehen — ein so tiefes Unverständnis, wie nur unterschiedliche Lebenswahrnehmungen es auslösen können.
Sorda beginnt mit der tiefvertrauten und authentischen Beziehung von Ángela und Héctor. Die beiden gehen liebevoll miteinander um, ihre Beziehung ist ihr sicherer Hafen. Ángela besitzt einen gehörlosen Freundeskreis, in dem auch Héctor immer willkommen ist und eine Arbeit, in der sie aufgeht. Héctor ist das Sinnbild eines liebevollen und unterstützenden Lebensgefährten, der ihr trotzdem Autonomie ermöglicht. All das wird ins Wanken gebracht, als ihre Tochter zur Welt kommt.
Die intensive Darstellung der traumatischen Geburt verdeutlicht, wie sehr gehörlose Menschen alleingelassen werden, in unserer Welt, die so sehr auf hörende Menschen ausgerichtet ist. Während Héctor zwar anwesend ist, wird er durch Komplikationen der Geburt in die zweite Reihe und hinter das Sichtfeld Angelas gedrängt. Er kann nicht mehr dolmetschen. Niemand versucht, ihr mit Gestiken zu verdeutlichen, was sie zu tun hat. Sie wird vom medizinischen Personal, deren Münder hinter OP-Masken verborgen sind, angeschrien. Keine Chance die Lippen zu lesen. Ein gewaltvoller, dramatischer Akt, der auch seinen Eindruck beim Publikum hinterlässt.
Die eigentliche Dramatik des Films entfaltet sich, sobald klar wird, dass die Tochter hören kann. Héctor steht die Erleichterung ins Gesicht geschrieben — ein erster Bruch in ihrer sonst so ebenbürtigen Beziehung, fühlt Ángela sich doch abgewertet und als Belastung wahrgenommen. Während Héctor immer stärker in der Fürsorge für die kleine Óna aufgeht, fühlt sich Ángela zunehmend entfremdet und nutzlos. Auch Ángelas Eltern sind entzückt von ihrer hörenden Enkelin. In Gruppenzusammenkünften kommt Ángela nicht mit — alle reden durcheinander, nehmen keine Rücksicht darauf deutlich ihre Lippen zu bewegen, damit Ángela durch Lippenlesen mitbekommen kann, worum es geht.
Noch dramatischer gestaltet sich ihre empfundene Distanz zur eigenen Tochter. Wenn Óna weint, versucht Ángela, sie durch Gebärdensprache zu beruhigen, doch ihre Tochter lässt sich am besten beruhigen, wenn man mit ihr redet — ein Bedürfnis, das Ángela nicht nachvollziehen kann, da sie es selber nie so wahrgenommen hat. Sie fühlt sich ihrer Tochter völlig fremd und zurückgewiesen, von ihrem Lebenspartner nicht unterstützt und wahrgenommen und in der Gesellschaft fehl am Platz. Sorda lässt sich Zeit, gibt den Szenen genügend Raum, um zu wirken und die Perspektive der Protagonistin einzufangen. Am Höhepunkt gipfelt dies in intensiven Szenen, in denen die Audiospur auf das reduziert wird, was Ángela wahrnimmt: dumpfe Geräusche. Immer bedrückender und beengender wird dieses Audio-Erlebnis, was dem Publikum ermöglicht, sich vollständig auf die Perspektive Ángelas einzulassen.
Ángela wird gespielt von Miriam Carlo, der Schwester der Regisseurin Eva Libertad. Sie ist selber gehörlos und ihre Sorgen vor dem Mutterwerden prägten zusammen mit Stimmen anderer gehörloser Mütter die Geschichte des Films. Diese geballte Erfahrung spiegeln sich im Film wieder, der einen so vielschichtigen Charakter in Ángela erschafft. Ángela, die zum einen selbstbewusst für sich einsteht, und zum anderen verzweifelt und überfordert ist in dieser völlig neuen Lebenssituation, in der alle bisherigen Mechanismen nicht mehr greifen. Eine Empfindung, die nicht nur auf gehörlose Mütter anwendbar ist — im Gegenteil, auch hörende Frauen können sich schwer tun mit ihrer neuen Rolle. Wie auch im Film Wenn du Angst hast nimmst du dein Herz in den Mund und lächelst schafft es Sorda die Rolle Ángelas nicht auf ihre Gehörlosigkeit zu reduzieren, sondern sie als eigenständige Frau und auch in ihrer neuen Rolle als Mutter darzustellen, die ihre Schwierigkeiten mit dem Muttersein hat — und eben auch noch gehörlos ist.
Ein spannender, vielschichtiger Film mit nuancierten Charakteren, der das Publikum in die Welt dieser jungen Familie hineinzieht.
