Die Rote Plastiktüte im grauen Schulalltag

Eine Kritik zu Kai Shi De Qiang

Zhuang Zhou (Zhang Taiwen) beginnt sein letztes Schuljahr an der High School. Gute Noten und Zusatzpunkte sind wichtig, um später in eine gute Uni zu kommen. Morgens stehen die Schüler:innen geordnet auf dem Schulhof und lauschen der Nationalhymne. Es ist ein tristes Bild, das von diesem Alltag der chinesischen Jugendlichen in Kai Shi De Qiang von Qu Youjia gezeichnet wird. Lediglich eine rote Plastiktüte bringt Farbe und Bewegung ins Bild und wird ein Symbol für den gesamten Film werden.

Denn als Zhuang der Plastiktüte folgt, trifft er auf seine Mitschülerin Meng Ke (Miao Jijun), die mit einer Startschusspistole in der Turnhalle der Schule zugange ist. Und obwohl Meng nicht viel redet und es ihr deutlich schwerer fällt als ihm, aus sich herauszukommen, wird Zhuangs Welt durch sie jeden Tag ein bisschen größer.

Gleich drei Filme im diesjährigen Generation-Programm kommen aus China und alle drei üben sie auf ihre Art Systemkritik aus. Während Xiao Ban Jie deutlich unterschwelliger vorgeht, sind Wo Tu und Kai Shi De Qiang deutlich offenkundiger. Der Slogan „Study Hard, Live Better“ kommt immer wieder vor. In stillen Aufnahmen wird der graue Alltag der Jugendlichen eingefangen, der vor allem  aus Schule und Lernen besteht. Für die weniger erfolgreichen Schüler:innen werden Freizeitaktivitäten wie Sport, die eigentlich ein Ausgleich sein sollten, zum einzigen Weg, an eine gute Uni zu kommen. Mit Respekt können sie dafür allerdings nicht rechnen. Erbarmungslos werden die Jugendlichen durch das Schulsystem gejagt – das Glück der Einzelnen spielt kaum eine Rolle. Versagen ist streng definiert und inakzeptabel. 

© Lv Qing

Obwohl es darum geht, dass Zhuang und Meng versuchen, ihren eigenen Weg zu finden, unabhängig von Erwartungen und Forderungen der Gesellschaft, wird auch deutlich, dass wir gemeinsam stärker sind. Zhuang, der seine Schulzeit zuvor nur mit einem Freund verbracht hatte, schließt sich dem Leichtathletik-Team an und ist zum ersten Mal Teil einer Gemeinschaft. Während er vorher allein in der Masse unterging, erfährt er hier Verbundenheit. Zum ersten Mal macht er etwas aus Spaß, nicht weil es von ihm gefordert wird oder er Zusatzpunkte für die Unibewerbung sammeln kann.

Kai Shi De Qiang überzeugt weniger durch aufregende Handlung. Es ist ein ruhiger Film und viele Aspekte sind vermutlich vor allem für Publikum aus westlichen Ländern nicht auf Anhieb verständlich. Für mich sind es jedoch die Gegensätze des Filmes, die mich nachhaltig angesprochen haben. Die Hauptdarsteller:innen Zhang Taiwen und Miao Jijun (die aufgrund von Visumsproblem leider nicht anwesend sein konnte) spielen ihre Rollen hervorragend. Der quirlige Zhuang, der mit seiner Art für viele Lacher im Publikum sorgte, ist ein Gegenpol zur stillen Meng, die bis zum Schluss geheimnisvoll bleibt.

Ebenfalls begeistert hat mich die Familiendynamik, die hier dargestellt ist. Das Sagen hat eindeutig Zhuangs Mutter. Sowohl ihren Exmann als auch ihren neuen Ehemann hat sie fest im Griff. Auch im neunten Monat Schwangerschaft hält sie sich nicht zurück. Es ist ein Bild, das mir in Erinnerung bleiben wird. Zu häufig werden Mütter auch heute noch als sanft und zurückhaltend dargestellt, bleiben im Hintergrund, hören auf ihre Ehemänner, vor allem bei wichtigen Entscheidungen. Zhuangs Mutter hingegen ist stark und selbstbewusst, aber dadurch nicht weniger fürsorglich oder mütterlich. Im Gegenzug dazu ist Mengs Mutter zwar genauso stark, hat aber für ihre Tochter wenig Zuneigung übrig, wenn es sich nicht um offizielle Anlässe hält. Von familienhierarchisch niedriggestellten Frauen fehlt jede Spur.

Ich möchte nicht so tun, als hätte ich wirklich alles verstanden, was Kai Shi De Qiang vermitteln möchte. Vielleicht fehlen mir die Einblicke in die chinesische Gesellschaft, vielleicht geht etwas in der Übersetzung verloren, vielleicht muss ich den Film einfach mehrfach sehen. Tatsache ist, dass ich letzteres auf jeden Fall tun würde, wenn sich die Möglichkeit ergibt. Dieser Film ist denjenigen ans Herz zu legen, die sich mit dem chinesischen Schulsystem auseinandersetzen wollen, starke Mutterfiguren erleben oder einfach nur eine teils lustige, teils traurige Coming-of-Age Geschichte sehen möchten.

  • Johanna

    Johanna, 24, geht schon seit sie denken kann mit ihrer Schwester auf die Berlinale. 2013 wurde sie zum Gründungsmitglied der freien Generation Reporter:innen. Wenn sie nicht gerade über die Filme und Hintergründe des Generationprogramms schreibt, singt sie im Chor und verschlingt ein Buch nach dem anderen. Nebenbei studiert sie auch im Master Ernährungsmedizin in Lübeck.

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