Mit Kinderaugen um die Welt

Eine Kritik zum Kurzfilmprogramm Kplus

Ausnahmsweise habe ich es dieses Jahr geschafft, das gesamte Kurzfilmprogramm von Kplus in meinem Zeitplan unterzubringen. Anders als die Langfilmauswahl, die dieses Jahr vor allem in Kombination mit den 14plus Langfilmen recht repetitiv ist, ist die Kurzfilmauswahl zumindest bei Kplus in sich stimmig und gleichzeitig sehr divers.

Sexuelle Gewalt und Vertrauensmissbrauch

Besonders im Gedächtnis bleibt mir Sukoun von Dina Naser. Die höreingeschränkte Hind (Malik Nassar) geht für ihr Leben gerne zum Karate. In einer Welt, die für Schwerhörige nicht ausgelegt ist, ist das Karatestudio ihr sicherer Hafen. Die anderen Schüler:innen und ihren Mentor hat sie gern. Bis es eines Tages zum sexuellen Übergriff kommt. Mit beeindruckender Eindringlichkeit und gleichzeitig Sensibilität wird eingefangen, wie es zum sexuellen Missbrauch bei Kindern kommen kann. Dass es vor allem Vertrauens- und Autoritätspersonen sind, die die Kinder verunsichern, manipulieren, ausnutzen. Dass es betroffenen Kindern (und letztendlich auch Erwachsenen) schwerfällt, sich über das Geschehene zu äußern, sich Hilfe zu suchen. Denn wenn das Vertrauen in eine zuvor so wertgeschätzte Person gebrochen wird, wie kann man sich anschließend anderen Menschen anvertrauen? Sukoun ist ein mitnehmender, herzzerreißender Film. Das Sounddesign lässt das Publikum von der ersten Minute an Hinds höreingeschränkter Welt teilhaben. Ohne einleitende Worte sind wir direkt im Geschehen und verstehen sofort, worum es geht. Malak Nassar nimmt uns mit auf eine Reise in die gehörlose und höreingeschränkte Welt, ohne dabei hilflos zu wirken. 

Sukoun ist ein Sprachrohr für Menschen, die immer noch zu selten gesehen und gehört werden – sowohl höreingeschränkte Personen als auch Opfer sexueller Gewalt. Ich hätte mir gewünscht, einen abschließenden Impuls zu sehen, sich zumindest nach einigen Tagen oder Wochen doch an Eltern oder andere vertraute Personen zu wenden. Zwar wird realistisch eingefangen, wie schwer es Hind fällt, das Geschehene zu kommunizieren, so ist der Film jedoch vor allem augenöffnend für Eltern und andere Menschen, die betroffenen Personen nahestehen. Für die betroffenen Kinder und Menschen selbst ist mir der Kurzfilm jedoch nicht empowernd genug, sich in diesen Situationen doch Hilfe zu suchen oder Hilfe anzunehmen. Alles in allem dennoch ein enorm wichtiger und kinematographisch beeindruckender Film, den ich gerne auch als Langfilm gesehen hätte. 

Malak Nassar in Sukoun, © Baha’ Slieman, Madd Moshawas

Der Schmetterling

Es dauert einige Minuten, bis mir klar wird, warum Papillon von Florence Miailhe im Kplus Programm läuft. Denn der Animationsfilm dreht sich um das Leben eines Schwimmers, von dessen Kindheit wir insgesamt nur wenig sehen. Als das Hakenkreuz die Leinwand füllt, verstehe ich sofort. Bei Papillon handelt es sich nicht um einen Kinderfilm per se. Aber es ist ein Aufklärungsfilm. Ein Bildungsfilm über die Grausamkeit des Nationalsozialismus im Speziellen und Faschismus, Rassismus, Antisemitismus im Allgemeinen. Besonders in Deutschland wird in Schulen viel Aufklärungsarbeit zum Nationalsozialismus betrieben. Dennoch scheint das Thema aktueller denn je, während es mittlerweile zu geheimen Treffen rechtsextremer Gruppen mit konkreten Abschiebungsplänen kommt.

Mit bezauberndem Animationsstil erinnert Papillon an den Nationalsozialismus. Pro Sekunde Filmmaterial wurden zwölf handgezeichnete Bilder verwendet, die zum einen eindrücklich sind, zum anderen viel Spielraum für Interpretation und ausfüllende Fantasie lassen. Die Mischung aus Eindringlichkeit und fehlender traumarisierender Bilder machen Papillon zu idealem Aufklärungsmaterial für ein junges Publikum, das mehr zum Mitfühlen und Verstehen einlädt als potenziell trockener Geschichtsunterricht (ohne hierbei alle Geschichtslehrkräfte über einen Kamm scheren zu wollen).

Rassismus und Faschismus waren nie „weg“. Es war nur lange Zeit leichter für weiße Menschen wie mich, wegzuschauen. Es geht jedoch schon lange nicht mehr nur um politische Meinungen, sondern um Menschenrechte. Um unsere Demokratie, für die so viele Menschen gestorben sind und weiterhin weltweit sterben. Die für viele Länder ein weit entfernte Traum ist und hier für selbstverständlich genommen wird. Papillon zeigt: gemeinsam sind wir stärker. Und es liegt an uns, unsere Demokratie zu schützen.

Papillon, animated by Florence Miailhe, Aurore Peuffier, Chloé Sorin

Andere Stationen der Weltreise

Neben diesen beiden Filmen, die mich noch lange weiter beschäftigen werden und mir noch heute schwer im Magen liegen, bietet das restliche Kurzfilmprogramm einen Einblick in Kinderleben auf der ganzen Welt.

Anaar Daana von Nishi Dugar thematisiert die widersprüchlichen Anweisungen von Erwachsenen, die Kinder häufig navigieren müssen. Fragen über wichtige Themen wie Krankheit und Tod bleiben unbeantwortet, während gleichzeitig erwartet wird, dass die Kinder auf wundersame Weisen verstehen, dass es gerade scheinbar nicht angemessen ist, zu spielen. Die fehlende Kommunikation von Eltern und Erziehungspersonen wird direkt auf den Kopf getroffen.

In A Summer’s End Poem von Lam Can-zhao begleiten wir einen Jungen bei seinem Wunsch, sich mit einer neuen Frisur selbst auszudrücken. In China gibt es restriktive Vorgaben für Schuluniform und Frisur, die den Kindern sämtliche Möglichkeiten raubt, sich zu entfalten und einen eigenen Stil zu entdecken. Unaufgeregt und wie auf Analog entwickelt sich eine Geschichte, die für Kinder in Deutschland völlig undenkbar erscheint.

Beurk! von Loïc Espuche ist ein kurzweiliger amüsanter Film, der das Thema Küssen für Kinder auf charmante Art und Weise enttabuisiert und für viele Kinder eine Erleichterung darstellen dürfte. Der Übergang von Kindheit in die Pubertät ist häufig sehr abrupt und verwirrend. Küssen ist auf einmal nicht mehr eklig, sondern soll so früh wie möglich passieren. Beurk! leistet seinen Beitrag, diesen Übergang etwas zu ebnen und mit viel Witz zu vermitteln, dass Küssen auch für Kinder nicht das Ekligste auf der Welt sein muss.

Nicht mit allen Kurzfilmen weiß ich etwas anzufangen. Goosfand, Porzellan, Aguacuario und Uli fangen den Alltag von Kindern aus dem Iran, Deutschland, Mexiko und Kolumbien ein, mir fehlt es jedoch an Handlung oder zumindest Moral für die Geschichte. Alles in allem ergeben die Kurzfilmrolle jedoch eine breit gefächerte Komposition, die durch Kinderaugen weltweit führt.

  • Johanna

    Johanna, 24, geht schon seit sie denken kann mit ihrer Schwester auf die Berlinale. 2013 wurde sie zum Gründungsmitglied der freien Generation Reporter:innen. Wenn sie nicht gerade über die Filme und Hintergründe des Generationprogramms schreibt, singt sie im Chor und verschlingt ein Buch nach dem anderen. Nebenbei studiert sie auch im Master Ernährungsmedizin in Lübeck.

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