Eine Studie der Gefühle

Es ist Abend, noch nicht spät, aber müde bin ich trotzdem. Auf dem Nachhauseweg soll es wieder regnen und ich bin mit dem Fahrrad da. Der letzte Film soll 161 Minuten gehen und die Filmbeschreibung war wie so häufig schwer zu deuten. Alles keine guten Voraussetzungen für meine Offenheit gegenüber Comme Le Feu von Philippe Lesage. Dass ich trotzdem einen guten Film erwarte und überhaupt hier bin, liegt daran, dass die kanadischen Generationsfilme über die letzten Jahre immer zu meinen Favoriten gezählt haben. Spoiler alert: Das bleibt auch weiterhin so.

Über zweieinhalb Stunden begleitet Comme Le Feu eine Gruppe sehr unterschiedlicher Charaktere in die Tiefen des kanadischen Waldes. Jeff (Noah Parker) wurde von seinem besten Freund Max (Antoine Marchand-Gagnon) eingeladen, ihn, seinen Vater Albert (Paul Ahmarani) und seine Schwester Aliocha (Aurélia Arandi-Longpré) auf ein Wochenende beim Regisseur und langjährigen Freund von Albert, Blake Cadieux (Arieh Worthalter), zu begleiten. Schnell wird klar, dass Jeff Gefühle für Aliocha hat und dass die Freundschaft zwischen Albert und Blake nicht so harmonisch ist, wie sie zunächst den Anschein hatte. Im Verlauf des Filmes kommt eins zum anderen und die Stimmung lädt sich mit jeder Stunde im Wald und jedem Glas Wein weiter auf.

Schon der Einstieg in den Film ist eine Reise für sich. Die erste Szene macht dem Publikum klar, warum es ein so langer Film sein wird. Von Anfang an wird die Hektik des Festivals zurückgelassen. Mehrere Minuten sind wir im Auto unterwegs, dürfen ohne Dialog die Weiten Quebecs auf uns wirken lassen und einen ersten ausführlichen Blick auf die jugendlichen Protagonist:innen Jeff und Aliocha werfen. Als wir endlich in der entlegenen Waldhütte von Jeffs großem Vorbild, Regisseur Blake, ankommen, haben wir bereits einen ganz schönen Weg hinter uns, aber das braucht es auch, um vom Stadtchaos mitten in der Natur anzukommen.

Wer glaubt, auf die Anfangsszenen würden hauptsächlich lange Aufnahmen der Natur und wenig Dialog folgen, irrt sich gewaltig. Ab Ankunft nimmt die Handlung Fahrt auf und das Publikum sitzt gebannt auf den Stühlen. Selten habe ich so viele Reaktionen des Publikums in nur einem Film erlebt. Es wird immer wieder herzlich gelacht. Der Atem angehalten. Wieder erleichtert gelacht, dann angespannt auf die Reaktion eines Streitpartners gewartet.

© Balthazar La

Minutenlange Szenen, die ungeschnitten gezeigt werden, beweisen sowohl das Talent als auch die Chemie zwischen den Castmitgliedern. Es scheint, als wäre den Schauspielenden einfach freie Bahn gelassen worden, obwohl natürlich viele Varianten mit den unterschiedlichsten Regieanweisungen gedreht wurden. Am Kopf des Tisches sind wir Zeug:innen der sich zuspitzenden Diskussionen. Die Charaktere halten sich nicht mit falscher Höflichkeit auf. Es gibt keinen Filter für die Emotionen – alles kommt raus. Während die fröhlichen Szenen unglaublich herzerwärmend sind und ich die Offenheit der Charaktere und ihre Zuneigungsbekundungen einfach nur schön und besonders finde, schlagen die Streitereien aufs Gemüt. Alle Seitenhiebe, Antworten, Ausbrüche sind roh und scheinen aus tiefster Seele zu kommen. Wie heißt es so schön – hurt people hurt people, verletzte Menschen verletzen Menschen. Die Beziehungen, die zu Anfang noch nah und liebevoll wirken, sind kompliziert und vielschichtig. Anfängliche Bewunderung schlägt schnell in Eifersucht, Abneigung, Misstrauen um. Es ist eine Studie der Gefühle, eine Studie des Menschseins. Auf allen Seiten werden Fehler gemacht, meist wird erst darüber geredet, wenn der Schaden schon angerichtet wird. Die einzige wirklich offene Kommunikation ist von einem der Jugendlichen initiiert, die Erwachsenen führen sich hingegen wie im Kindergarten auf.

Comme Le Feu ist ehrlich und roh. Umso enttäuschender ist für mich das letzte Viertel des Filmes, in dem Traumelemente und Paranoia zum Tragen kommen. Sie scheinen nicht zur Gesamtkomposition zu passen, lassen mich nach dem sehr starken und stimmigen Start des Films verwirrt und unruhig zurück. Es fühlt sich an, als wäre mein Wagen nach einer wilden Achterbahnfahrt plötzlich kopfüber stehen geblieben und so müsste ich nun aussteigen.

Im Großen und Ganzen sehe ich gerne über diesen letzten Teil hinweg, es bleibt jedoch fragwürdig, wie gut ein Film für mich wirklich sein kann, bei dem ich für einen nicht unwichtigen Teil so tun muss, als hätte es ihn nie gegeben. Zu meinen Favoriten des diesjährigen 14+ Programmes gehört Comme Le Feu trotzdem – ich kann mir eben nicht immer alles aussuchen und ein Höhepunkt sind die wirren Träume allemal. Und irgendwie schaffe ich es schon aus meinem kopfstehenden Achterbahnsitz.

  • Johanna

    Johanna, 24, geht schon seit sie denken kann mit ihrer Schwester auf die Berlinale. 2013 wurde sie zum Gründungsmitglied der freien Generation Reporter:innen. Wenn sie nicht gerade über die Filme und Hintergründe des Generationprogramms schreibt, singt sie im Chor und verschlingt ein Buch nach dem anderen. Nebenbei studiert sie auch im Master Ernährungsmedizin in Lübeck.

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