Von Wasserpistolen und Umsiedlung

Ein kleiner Junge schleppt sich mit einem gefüllten Wassereimer durch einen heftigen Sandsturm. Als er sein Zuhause erreicht, eilt ihm die Mutter schon entgegen. Die geschlossenen Türen helfen nur notdürftig, der Sand wirbelt trotzdem herein. Als der Junge das Fenster schließt, zerspringt es.

Mit dieser Eröffnungsszene des Filmes Wo Tu von Wang Xiaoshuai landet das Publikum mitten in einem Bergdorf im Nordwesten Chinas und lässt Berlin für zwei Stunden zurück. Wir begleiten den gleichnamigen zehnjährigen Wo Tu bei seinem Versuch, endlich eine eigene Wasserpistole in Händen zu halten. Dauernd vergisst sein Vater, eine aus der Stadt mitzubringen, in der er arbeitet. Sein Großvater hingegen möchte ihm eine besorgen, sobald er verstorben ist. Was folgt, ist eine Reise aus nahtlos ineinander übergehenden Traum- und Realitätssequenzen, die wie nebenbei einen geschichtlichen Abriss über die Bergdörfer Chinas bieten.

Die chinesische Regierung arbeitet nämlich seit Jahren mit Hochdruck daran, rudimentäre Bergdörfer in neu gebaute Siedlungen im Tal zu verlegen. Das Ziel: niemand bleibt zurück. Der Weiterentwicklung Chinas zu entgehen, ist auch für die Bäuer:innen in den entlegensten Bergen keine Option. Sie sollen an die Infrastruktur des Landes angebunden sein und dadurch einen größeren Beitrag zum Kommunismus leisten. Die individuellen Wünsche und Bedürfnisse der Dorfbewohnenden sind hierbei im Sinne der Allgemeinheit irrelevant.

Auch Wo Tus Dorf ist betroffen. Immer mehr seiner Mitschüler:innen verlassen das Dorf, seine Familie hat kaum Geld, Wasser ist knapp, und nicht einmal eine traditionelle Beerdigung des Großvaters wird erlaubt. Fortschritt für alle, komme, was wolle. In Traumsequenzen, in denen es im ersten Takt um Wo Tus gewünschte Wasserpistole geht und wie sein Großvater ihm diese beschaffen kann, wird die Geschichte der Familie aufgearbeitet. Und ab hier wird es wirr. In diversen Rückblicken bekommt das Publikum einen Sinn dafür, wie Wo Tus Urgroßvater im Namen des Kommunismus enteignet wurde. 

Mir fällt es schwer, eine klare Meinung zu diesem Film zu äußern. Während ich die Rückblicke und den geschichtlichen Hintergrund sehr spannend fand, passten sie in meinen Augen nicht zur Gesamtaufmachung. Aber auch sonst schienen viele Aspekte einfach nicht zu harmonieren. Der Traum der Wasserpistole schien komplett losgelöst vom geschichtlichen Hintergrund. Die Tonaufnahmen des Landes, wie die Geräusche des Sandsturmes, das Prasseln des Regens, standen für sich. Mir war, als versuchte der Film zu viele Dinge auf einmal zu sein, als kämen zu viele Ideen zusammen und hinterließen ein zweistündiges Wirrwarr, das sich schwer auseinanderziehen lässt. Auch der Regisseur meint im Anschluss, um diesen Film zu verstehen, müsse man ihn mehrmals sehen. Aber ob ich diesen Film überhaupt noch einmal sehen möchte, geschweige denn mehrmals? Die geschichtlichen Aspekte sind zu unvollständig angerissen und haben mich inspiriert, mich mehr zu dem Thema zu belesen, aber ohne zusätzliches Hintergrundwissen werde ich auch bei mehrmaligem Schauen kaum mehr aus diesen Szenen ziehen können. Der Traum der Wasserpistole ist ein schönes Symbol dafür, wie einfach Kinder glücklich zu machen sind, wie simpel das Leben aus Kinderaugen scheint, wie wenig Wo Tu ernst genommen wird, wenn dieser Wunsch doch immer wieder vergessen wird. Innerhalb von zwei Stunden aber kaum andere Handlung zu bieten? Schwierig. Und für schöne Naturaufnahmen gucke ich dann vielleicht doch lieber eine Doku, aus der ich am Ende vermutlich auch deutlich mehr mitnehme.

Wenn man gerade zwei Stunden an der Hand hat, ist Wo Tu keineswegs ein schlechter Film. Es waren eben doch schöne Aufnahmen, sowohl Ton als auch Bilder, ich habe doch einiges gelernt, und sei es, dass ich mich näher in das Thema einlesen muss. Der Film lenkt Aufmerksamkeit auf ein Problem, von dessen Existenz ich vorher nichts wusste. Jedoch funktionieren die verschiedenen Aspekte des Films in meinen Augen leider nicht miteinander und die geringe Handlung zieht sich über die zwei Stunden doch sehr.

  • Johanna

    Johanna, 24, geht schon seit sie denken kann mit ihrer Schwester auf die Berlinale. 2013 wurde sie zum Gründungsmitglied der freien Generation Reporter:innen. Wenn sie nicht gerade über die Filme und Hintergründe des Generationprogramms schreibt, singt sie im Chor und verschlingt ein Buch nach dem anderen. Nebenbei studiert sie auch im Master Ernährungsmedizin in Lübeck.

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